Unser Newsletter Oktober 2024

In dieser Ausgabe haben wir inhaltliche Beiträge präsentiert von unseren Kolleg*innen 
Franziska Woellert, Michael Zirlik und Dr. Gabriele Beckert. In dieser Reihenfolge finden Sie diese Beiträge hier.

Der innere Kompass – und warum wir immer 
wieder darauf zurückkommen

Foto: Robert Wieczorek

Ich bin jetzt seit knapp zwei Jahren Studienleiterin bei der akd. In dieser Zeit durfte ich schon so einige Führungskräfte auf Ihrer Reise durch unsere Veranstaltungen begleiten. Dabei stoße ich immer wieder auf ein Phänomen, das mich sehr bewegt. Ich habe mit vielen Menschen zu tun, die mit Leib und Seele mit ihrem Job verbunden sind. Oft sind sie seit ihrer Jugend mit kirchlicher oder diakonischer Arbeit verbunden, sie waren bei den Pfadfindern oder in der Jugendgemeinde, haben freiwillige Dienste geleistet, sich in Gemeinschaften engagiert oder sich früh für eine Ausbildung im sozialen Bereich entschieden. Sie sind mit vollen Herzen bei dem was sie tun, bei den Menschen, die sie erreichen möchten. Es sind oft diese Menschen, die in Führungspositionen gefördert werden, weil sie so überzeugt sind, dass sie andere überzeugen. 

Die Sehnsucht nach der schnellen Lösung

Und dann sind diese Menschen in Führung und merken irgendwann, dass all das, wofür sie brennen und worin sie gut sind, sich in der Führungsposition nicht immer so einfach umsetzen lässt. Sie machen das Beste daraus, sie greifen auf ihr umfassendes Fachwissen zurück und sie orientieren sich an dem, was sie aus der Führungstheorie und -praxis bisher als gute Methoden kennengelernt haben – und stoßen dennoch an Grenzen. Manche fangen dann an, nach innen die eigenen Werte zu hinterfragen und sich nach außen als besonders durchsetzungsstark zu präsentieren. In unseren Veranstaltungen wird dann so manches Mal der Wunsch geäußert, die ultimative Methode für zum Beispiel Strategieentwicklung oder Personalführung oder Teamcoaching zu lernen. Die Hoffnung ist, Patentlösungen präsentiert zu bekommen.

Auf den inneren Kompass kommt es an

Natürlich gibt es so manche sinnvollen Ansätze, Leitfäden, Methoden oder Theorien, die genau das bieten: Struktur und Orientierung zum schnellen Handeln in einem oftmals sehr bwegten Umfeld. Einfache „hard facts“ Lösungen, die ich erlernen und anwenden kann.
Doch diese Sehnsucht nach der einfachen Lösung kann auch eine Illusion sein. Denn was in einem Moment funktioniert, kann im nächsten bereits überholt sein. Die Herausforderungen für Führungskräfte sind in unserer heutigen Welt zu vielfältig und die menschlichen Beziehungen zu komplex, um sie allein mit vorgefertigten Modellen zu managen.

Zudem ist jeder Ansatz, jede Methode nur so gut wie die Person, die sie anwendet. Aus unserer Erfahrung sind die erfolgreichen Führungskräfte diejenigen, die es schaffen, sich ständig auf neue, unvorhersehbare Situationen einzustellen. Ihre größte Stärke liegt nicht darin, die neuesten Tools zu beherrschen. Vielmehr zeichnen sie sich durch eine innere Klarheit und Stabilität aus. Diese Führungskräfte wissen, was sie antreibt und wofür sie stehen. Und sie wissen, was die Organisation von ihnen braucht und wie sie ihren Mitarbeitenden die nötige Orientierung geben. Sie können in komplexen Situationen Entscheidungen treffen und sich bei neuen Erkenntnissen korrigieren. Sie haben einen inneren Kompass.

Die Bedeutung im Führungsalltag

Besonders in schwierigen Situationen, wenn äußere Faktoren wie Zeitdruck, Unsicherheit oder Konflikte das Tagesgeschäft prägen, zeigt sich die Stärke einer Führungskraft, die von einem festen inneren Kompass geleitet wird. Wer innerlich gefestigt ist, kann auch in stürmischen Zeiten einen klaren Kurs halten, selbst bei vielen Unbekannten – und genau das ist es, was die Mitarbeitenden von ihren Führungskräften erwarten.
Die gute Nachricht: niemand wird einfach mit diesem inneren Kompass geboren Er lässt sich entwickeln und trainieren. Tatsächlich widmen wir in unseren Kursen einen bedeutenden Teil der Zeit genau diesem Thema. Es geht darum, Führungskräfte nicht nur mit äußeren Werkzeugen, sondern auch mit der nötigen inneren Stärke auszustatten. Gerade in unseren mehrmoduligen Angeboten können wir beobachten, wie unsere Teilnehmenden eine immer klarere Vorstellung davon entwickeln, was sie leitet und worauf sie in schwierigen Situationen vertrauen können. Diese tiefere Auseinandersetzung mit der eigenen Persönlichkeit und den eigenen Zielen fördert wahre Führungsstärke. Und sie bietet eine gute Basis, um das nächste Lieblingstool sinnvoll einzubringen.

Franziska Woellert, akd Studienleitung

Von Innerer Beweglichkeit und der Kunst, 
sich – auch als Führungskraft – neu zu erfinden

„Der Mensch ist ein Gewohnheitstier und will am liebsten, dass alles so bleibt wie es ist.“

Wie oft haben wir diesen Satz schon im Zusammenhang mit Change Management gehört? Doch so wahr er scheint, so wenig gültig ist er bei näherer Betrachtung. Denn Menschen verändern sich andauernd: Sie pflegen neue Hobbies, beginnen und beenden Beziehungen, wechseln Stellen und Berufe, ziehen aus, ein und um, werden Eltern oder pflegende Angehörige… Kurz: Das ganze Leben ist Veränderung!

Zeit also zu fragen, warum Veränderung in manchen Bereichen so wunderbar funktioniert und ausgerechnet im beruflichen Kontext scheinbar weniger.

Dazu eine kurze Anekdote aus meiner eigenen beruflichen Biographie:

2018 erhielt ich das Angebot, ein großes, mehrjähriges Projekt zum Thema „Digitalisierung in der Sozialwirtschaft“ zu leiten. Menschen, die mir nahestanden, mussten schmunzeln, denn bis dahin hatte ich mit Digitalisierung recht wenig am Hut, wollte „lieber was mit Menschen machen“, besaß ein Handy, das mit „Steinzeitknochen“ gut beschrieben war. Nun aber hatte ich zwei Alternativen: a) Entweder ich bliebe ich bei meiner bisherigen Identität und Haltung oder b) ich machte mir das Thema radikal zu eigen und komme „vor die Welle“.  

Ich nahm mir etwas Zeit zum Reflektieren und Orientieren. Dabei spürte ich erstmals die begründete Angst, bei Option a) abgehängt zu werden, den Anschluss zu verpassen. Gleichzeitig spürte ich so große Lust darauf, ein weiteres Projekt dieser Größenordnung zu leiten, sah mich gedanklich schon in dieser neuen Position. Damit war die Richtung klar, die grundsätzliche Entscheidung gefallen. Nun brauchte ich „nur“ noch eine Idee, um von a) nach b) zu kommen: Wo konnte ich was lernen? Wer konnte mich wie dabei unterstützen? Wie kommunizierte ich mein neues Selbstverständnis?

Letztlich sind es genau diese drei Faktoren, die Menschen in Veränderungsprozessen brauchen: Einen Antrieb „weg von“ (den Leidensdruck), eine Motivation „hin zu“ (den Ruf des Abenteuers, die positive Zukunftsvision), sowie eine Roadmap für den Weg von a) nach b) (Qualifizierung, Projektmanagement). Kommt auch nur einer dieser drei Aspekte im ChangeManagement zu kurz, wird es zäh und schwierig.

Auch – z.T. langgediente - Führungskräfte stehen heute vor dieser Herausforderung sich grundsätzlich neu zu erfinden: Die turbulente VUCA – Welt, die Digitalisierung, die Ansprüche der Gen Z und die Trends zu Säkularisierung, Pluralismus und unternehmerischer Ausrichtung der Diakonie werfen zu Recht kritische Fragen nach der Haltung und Identität als Leitungskraft auf.

Die gute Nachricht: Auch hier gelingt Veränderung, aber es braucht Zeit und Raum dafür, sich einigen herausfordernden Fragen zu stellen:

Warum kann ich nicht einfach so weitermachen wie bisher? Spüre ich den Leidensdruck schon stark genug? Was hält mich noch? Was muss ich zurücklassen, wenn ich aufbreche? Wie sehe ich mich zukünftig? Was gewinne ich dadurch? Welches Zukunftsbild macht mir Lust und Freude? Wie komme ich dorthin? Wer kann mich auf dem Weg unterstützen? Mit welchen Hürden ist unterwegs zu rechnen und wie gehe ich damit um? Was brauche ich an neuen Kenntnissen, Fertigkeiten und Erfahrungen? 

Wir alle sind auch in unserer Tiefe deutlich veränderungsfähiger, als wir glauben. Wir haben nur häufig verlernt, wie es geht. Kommen wir wieder in Übung! Fangen wir mit der Veränderung kleiner, alltäglicher Gewohnheiten (Mikro – Challenges) an und steigern uns dann! Finden wir Begleiter*innen und entdecken wir wieder die Quellen für wahre Transformation uns selber!

Michael Zirlik, akd Studienleitung

Leon will nicht mehr!

Leon, 16 Jahre weiß um seine Diagnose und den progredienten Verlauf. Diese wurde mit ca. 8 Jahren gestellt. Er hat in den letzten Jahren vermehrt den Wunsch geäußert seinem Leben, wenn er volljährig ist, selbstständig ein Ende zu setzten. Er möchte auf keinen Fall beatmet werden. Trotz regelmäßiger Physio- und Ergotherapie ist er stark bewegungseingeschränkt. Er kann aktuell die Arme in einem 90 Grad Winkel zu seinem Mund bewegen. Seine Nahrung muss sehr klein geschnitten oder passiert werden, damit er sie oral aufnehmen kann. Die Aspirationsgefahr ist sehr hoch, daher dauert die Nahrungsaufnahme lange. Der Schluckakt ist für Leon sehr anstrengend. Diskutiert wird das Legen einer PEG, da der Kalorienbedarf alleine über die orale Nahrungsaufnahme nicht sichergestellt werden kann. Aufgrund einer Skoliose trägt er bis zu 12 Stunden am Tag ein Stützkorsett und Orthesen an den Füßen um die Spitzfüße zu begradigen. Seine Mutter übernimmt seine komplette Körperpflege, im Alltag unterstützen ihn seine beiden älteren Brüder oder sein Vater.

Sein Wunsch, mit 18 Jahren seinem Leben ein Ende zu setzen, beschäftigt emotional seine Familie aber auch das begleitende Team. Das ist die Kurzform einer Fallvorstellung in unserer Weiterbildung Palliative care für Kinder und Jugendliche, die jede/r Teilnehmende vorstellen muss. Die Gefühle, die seine Erkrankung bei Leon, seiner Familie, aber auch bei seinem begleitenden Team, bestehend aus Pflege(fach)kräften, Ärzt*innen, Therapeut*innen und Sozialarbeiter*innen auslöst, umfasst das gesamte Spektrum an möglichen Emotionen, u.a. Angst, Wut, Sorge, Traurigkeit, Kummer, Verständnis für seine Situation und auch für seinen Wunsch. Aber wie geht das interprofessionelle Team damit um?

Letzte Woche wurde in der Süddeutschen Zeitung (26.September 2024) ein Artikel mit der Überschrift: „Nur ein Knopfdruck“ veröffentlicht. In der Schweiz ist zum ersten Mal eine Frau, eine 64 Jahre alte US-Amerikanerin, in einer Suizid Kapsel gestorben. In diese Kapsel kann man sich hineinlegen und durch Knopfdruck die Zuleitung von Stickstoff auslösen. Dann erstickt man an Sauerstoffmangel. Das Vorhaben wurde umgesetzt gegen Verbote, politischen Widerstand, gegen den Willen des Bundesrats. Selbst ein Strafverfahren wurde von den Anwesenden in Kauf genommen. Sterbewunsch und Sterbehilfe umfassen rechtliche, ethische, moralische, gesellschaftliche und politische Aspekte, aber durchaus auch ökonomische Motive.  Was macht das emotional mit den involvierten Menschen? Die mit dem Sterbewunsch sterben in diesem Fall isoliert und alleine, keiner sitzt am Bett und hält die Hand, liest etwas vor, spricht ein Gebet. Wie geht es den An- und Zugehörigen, wenn ihr geliebter Mensch diese Form des Sterbens wählt? Was macht es mit dem interprofessionellen Team?

Um existenzielle Situationen auszuhalten und zu bewältigen ist neben der Unterstützung und der Zusammenarbeit in einem Team, in einer Familie, neben allem Lernen und Veränderungen in Einrichtungen die regelmäßige Reflexion der eigenen Haltung, der eigenen Wertvorstellungen und den individuellen moralischen Prinzipien für die eigene (Weiter-)Entwicklung von großer Bedeutung. 

Immer öfter wird in diesem Zusammenhang „Spiritual Care“ diskutiert. Spiritual care als Bezeichnung für die gemeinsame Sorge um existenzielle, religiöse und spirituelle Ressourcen, Bedürfnisse und Probleme kranker Menschen und ihrer Angehörigen.
Im Bereich des Sozialwesens nimmt die interprofessionelle Arbeit einen immer höheren Stellenwert ein. Mitarbeitende müssen berufsübergreifend im Gesundheitswesen zu existenzieller Kommunikation fähig sein, die spirituelle Dimension von Gesundheit und Krankheit in ihren beruflichen Alltag einbeziehen. Spiritual Care stellt sowohl für die einzelnen Mitarbeitenden als auch für das Team, die Unternehmenskultur eine Ressource dar. Das Einbeziehen der An- und Zugehörigen ist dabei ebenso von Bedeutung wie die Unterstützung der Mitarbeitenden in der eigenen Auseinandersetzung mit ihrer Haltung und das nicht erst am Lebensende.

Die Diakonie Deutschland hat von 2020-2024 das Projekt zu Spiritual/ Existentiale Care interprofessionell initiiert. In der wissenschaftlichen Begleitung konnte gezeigt werden, dass die Implementierung von Spiritual Care nicht nur den kranken Menschen und ihren Angehörigen guttut, sondern auch den Mitarbeitenden, den Teams, was wiederum zu einer größerer Berufszufriedenheit führt.


Dr. Gabriele Beckert, akd Studienleitung