Prof. Dr. Tobias Braune-Krickau
ist Lehrstuhlinhaber für Praktische Theologie an der Universität Greifswald
Intensität und Freigiebigkeit
Foto: Das Labyrinth von Chartres
Als Kind bin ich in einer Freikirche aufgewachsen. Glücklich, will ich gleich dazusagen, in einer großen, weitherzigen, alteingesessenen Baptistengemeinde. Später erst bin ich der evangelischen Kirche beigetreten, gerne, bewusst und ohne Abgrenzungsbedürfnis. Die Erfahrungen dieser beiden Welten spielen in mein Bild von Kirche hinein. In gewisser Weise stellt es den Grund dar, warum ich weiterhin gerne und bewusst der evangelischen Kirche angehöre.
Das Bild, das sich mir intuitiv aufdrängt, sobald ich über Kirche nachdenke, ist das Bild von konzentrischen Kreisen. Zugegeben: ein abstraktes Bild, unter dem man sich Verschiedenes vorstellen kann: sich ausbreitende Wellen oder ein Sog nach innen, verschiedene Zonen einer Landschaft, ein Kreislabyrinth, wie auf dem Boden der Kathedrale von Chartres…
Was ich damit verbinde, das ist eine Kirche, die beides pflegt und sich keinen Gegensatz einreden lässt zwischen der Intensität einer christlichen Mitte und religiöser und kultureller Freigiebigkeit.
Ich halte es für eine große Stärke, dass man an unseren Kirchen auf so verschiedene Weisen teilhaben kann. Indem man zum Beispiel ein Weihnachtsoratorium besucht oder seine Kinder in der kirchlichen Kita hat, indem man bei der Diakonie arbeitet oder sich kurz in eine offene Kirche setzt, indem man im Kirchenchor mitsingt oder ehrenamtlich bei der Tafel hilft. Niemand prüft Rechtgläubigkeit – drinnen und draußen spielen keine Rolle. Eine Kirche auch für „mild religiöse“ Menschen, so würde Kristian Fechtner vielleicht sagen.
Genauso wichtig sind aber auch die Zonen größerer Bestimmtheit und Verbindlichkeit. Die Gruppen und Kreise, in denen Menschen ihr Leben mit einander und vor Gott teilen. Der seelsorgliche Beistand, wenn das Leben zerbricht oder endet. Die Gottesdienste, in denen etwas vom tiefen Ernst des Christentums spürbar wird. All die Menschen, die versuchen, in ihrem Leben dem Vorbild Jesu zu folgen. Eine Kirche, die, wenn es denn sein muss, auch dem Rad in die Speichen fällt – aus Glauben.
Für mich gehört beides im Bild der Kirche zusammen und ich weigere mich, hier einen Gegensatz aufkommen zu lassen. Religiöse Freigiebigkeit ist eine Tugend des Evangeliums. Beides zu haben, ist für mich die Art, wie Kirche unter den Bedingungen der Moderne sie selbst ist. Es braucht die Zonen der Weite und Freigiebigkeit gegenüber einer individualisierten, oft fragilen und fraglich gewordenen Religiosität, an der wir, wenn wir ehrlich sind, alle teilhaben. Und es braucht den Widerspruch, den Ernst, die Gemeinschaft der Heiligen. Deswegen das Bild von konzentrischen Kreisen, verbunden durch eine gemeinsame Mitte.
Allerdings, wenn ich darüber nachdenke, dann legt sich da ein Missverständnis nahe – vielleicht sogar eine Versuchung? –, die es unbedingt zu vermeiden gilt. Protestantisch gäbe es ein schiefes Bild, würde man die einzelnen Kreise mit bestimmten Formen der Kirche identifizieren: etwa innen der Gottesdienst und die Gemeindegruppen, außen die Diakonie und der Kindergarten. Vielmehr trägt jeder kirchliche Ort und jede kirchliche Form die konzentrischen Kreise in sich. Alle können sie Anteil haben an der Intensität jener unsichtbaren Mitte in Jesus Christus und der Freigiebigkeit religiös-kultureller Weite.
Mit Größe, Einfluss und Finanzkraft hat dieses Bild übrigens wenig zu tun. Wenn nur eine Handvoll kirchlicher Orte übrigbliebe, sie aber so beschaffen wären: ich würde mich gerne zu ihnen zählen.
Prof. Dr. Tobias Braune-Krickau
ist Lehrstuhlinhaber für Praktische Theologie an der Universität Greifswald