Tilman Kingreen 

Studienleiter akd

Eine expressive Kirche

Auf die Begegnung kommt es an. Was wollen wir erkennen? Wohin schauen wir? Frische und Mut, Weitblick und Expressivität sind der evangelischen Kirche in die Wiege gelegt. Gestalten wir unser Weltverhältnis hingegen exklusiv rezeptiv, bleiben wir im Sprachgestus der Betroffenheit. Doch gerade dort, wo wir mit einem manchmal auch diffus wirkenden Umfeld wirklich in Kontakt treten, können wir unsere Spiritualität produktiv wirken lassen. Wir bringen Neues in die Welt. So bringt die Kirche Trost in die Gesellschaft, etwa durch Gottesdienste nach schrecklichen Amoktaten. Oder Kirche bezieht vor Ort Position, etwa gegen menschenverachtende und ausländerfeindliche Positionen. So stiften Menschen zu ihren Zeiten und in ihren Situationen am Rande des großen Weltgeschehens lebensbejahende Resonanzen. Sie bilden Kristallisationspunkte des Glaubens aus. Ihre Überzeugungskraft entwickelten sie dabei nicht aus sich heraus. Sie entsteht in den Augen der anderen. Charisma und Mut generieren Wirkung, indem andere etwas aufstrahlen sehen, das sie überzeugt. Andere erkennen, wie für sie die Welt plötzlich im Licht der Ostersonne aufleuchtet. Ein aufgeklärter Glaube ist expressiv. Er lebt aus der Spannung zwischen Vernunft und Frommsein.
Der Wanderer über dem Nebelmeer wurde 1818 von Caspar David Friedrich geschaffen. Die Rückenfigur füllt die Bildmitte. Sie verkörpert eine aufrechte und erhabene Haltung voller Tatkraft. Das linke Bein angstfrei auf den Felsvorsprung vorgerückt, schaut die Figur vorwärtsgerichtet in die Welt. Sie lässt sich nicht schrecken von dem Nebel, in dem die Wirklichkeit verborgen liegt. Die Bergketten treffen sich in der Mitte des Bildes im Herzraum des Wanderers. Erkenntnissuchend schaut er genau hin, die feinsten Nuancen wecken sein Interesse. Sie machen den Unterschied. Er will aus der Tiefe heraus verstehen, was ist. Er lässt sich nicht entsetzen, er hält Stand. Frei und erkennbar dazustehen, Hilfe – hier einen Gehstock – annehmend, aber sich nicht ängstlich an ein Geländer oder irgendeine äußere Struktur anzulehnen: In diesem Sinne innerlich gebunden, auf den eigenen Beinen frei stehend zwischen Himmel und Erde im Angesicht undurchsichtiger Weiten ergreifen Menschen das Leben. So entsteht vor unseren Augen die Kirche der Zukunft.
Ich sehe diese Kirche der Zukunft wie jenen Wanderer über dem Nebelmeer. Es braucht Menschen, die sich nicht vom vernebelnden Wechselspiel dieser Welt beeindrucken lassen, sondern stattdessen tiefer hinsehen und die hinter dem Nebel bereits aufscheinende Wirklichkeit des Ostermorgens erkennen. Sie bleiben ganz in ihrer Kraft, sehen unverfälscht auf das, was ist, und kommen in ein Handeln, das von der eigenen Sache, dem Bekenntnis zum Leben, bestimmt ist. Einfach tun! Erwartungsvoll sein, etwas wagen und dann ehrlich hinsehen, was passiert. Nicht jeder Schritt gelingt. Aber wie kleine Ateliers entstehen an vielen und bisher unbekannten Orten Werkstätten des Glaubens. Sie sind divers, bunt, kreativ. In ihnen herrscht ein Geist der Leidenschaft.
Die Kirche der Zukunft wird dazu Ihr Personal freigeben. Personen werden nicht weiter an Orte gebunden. Mit dem Auszug aus der baulichen Ensemblelage von Kirche und Pfarrhaus erklingt ein Weckruf. Personen entdecken ihre Themen und gehen dafür im Sozialraum auf Herbergssuche.
Die Kirche der Zukunft ist in ihrem Kern personale Begegnung. Sie wendet sich damit ab von der siegreichen und triumphalen Art, mit dem Leben umzugehen, die uns gesellschaftlich in die gegenwärtige Krise geführt hat. Sie sensibilisiert für das Leben und organisiert sich in einem die Ressourcen teilenden Netzwerk selbstständiger, finanziell lebensfähiger Gemeinden unterschiedlicher Rechtsform, die sich lebensraumbezogen thematisch spezialisieren.
So entsteht ein Strahlen von innen heraus. Es verknüpft Personen, Orte und Aufgaben im Sozialraum - geistgeleitet. Der internalisierte Glaube ist unsere Heimat. Die Relevanzfrage wird nicht ins außen verlagert oder beklagt. Sie wird durch das eigene Wagnis bewahrheitet. Wir folgen unserem Ruf. Damit wird die Frage der Kirchenentwicklung zur Frage der Personalentwicklung. Wo entwickeln Menschen Wirksamkeit? Und zwar: in den Augen der anderen! Das Geld wird dem Geist folgen. Orte des Gelingens werden gefördert. Kirche wird zu einer Kirche mit Kraftzentren auf Zeit und Erinnerungsorten, die auf Dauer angelegt sind, damit von dort Menschen immer wieder neu ausströmen, um Neues zu erproben.

Tilman Kingreen, Studienleiter der akd