Dr. Thomas Schlegel

ist Direktor der Arbeitsstelle für missionarische 
Kirchenentwicklung und diakonische Profilbildung.

Kirche ist wie ein Wald 


  

– und zwar nicht erst die zukünftige. Auch die gegenwärtige ist schon einer. Natürlich wird die Kirche morgen anders aussehen als heute. So wie der Wald. Experten meinen, dass es (wahrscheinlich) viel weniger Fichten geben wird; dass die Kathedralwälder aus majestätischen Buchen (wahrscheinlich) verschwinden werden und dass (wahrscheinlich) fremde Arten das Bild prägen werden. Aber so genau weiß das keiner: Das Klima ändert sich rasant, die Standortbedingungen in Deutschland differieren stark, Bäume wachsen langsam. (Wahrscheinlich) wird es trockener und heißer – wenn der Golfstrom nicht versiegt. Welche Lösungen morgen die richtigen gewesen sein werden, wissen wir heute nicht – so sagt es Henrik Hartmann, der das Julius-Kühn-Institut für Waldschutz leitet. Deshalb müssen wir ausprobieren, an vielen Stellen Verschiedenes; mit einer großen Offenheit, wenig Vorgaben und viel Zuversicht: Denn was heute richtig gewesen sein wird, wissen die Forstverwaltungen erst in 50, 60 oder gar 100 Jahren. 
Da sind wir unmittelbar bei der Kirche. Auch hier müssen wir gegenwärtig erproben, erproben und nochmals erproben. Gerade weil wir nicht wissen, wie die Zukunft aussieht, müssen wir heute vielerlei Setzlinge ausbringen. Das Wachsen schenkt ohnehin Gott, nicht wir. Kurz gesagt: Unsere Steuerungshebel sind begrenzt. Wir brauchen Mut, Kreativität und Bescheidenheit in unseren Umbauprozessen. Als Abraham aufbrach, wusste er auch nicht, wo es hingeht – und er marschierte trotzdem los. 
Meine Aufgabe ist hier, ein Bild der künftigen Kirche zu malen. Es mag also sein, dass Sie der Auftakt enttäuscht: Denn ich behaupte, dass man das gar nicht kann. Wir wissen dafür zu wenig. Mein Bild ist eher ein Vergleich. Und der beginnt schon in der Gegenwart: Kirche ähnelt einem Wald.
Die Idee kam bei einer Wanderung durch den Harz. Vier Stunden offene Landschaft – früher einmal dicht bewaldet. Hier und da ragte ein toter Stamm in den Himmel wie ein kahler Zahnstocher. Sonst war das Totholz beräumt. Keine rauschenden Fichten mehr. Kein sanftes Wiegen der Wipfel. Nichts, was uns bergen und umhüllen konnte. Und da ich mit Pfarrern unterwegs war, keimte die Frage auf: „Geht es uns als Kirche nicht ähnlich?“ Unser System implodiert. Rückbau und Kahlschlag allerorten.  
Vor allem die prägenden Bausteine unserer Kirchenkultur sind bedroht: Der Sonntagsgottesdienst, der Pfarrer im Ort, Kirchensteuer als Mitgliedsbeitrag. Die Fichte eben: Eine „Monokultur“, die so sehr unser Bild von Kirche geprägt hat, dass sich etwas anderes vorzustellen schwerfällt. Auch in den deutschen Mittelgebirgen verschwindet nicht der Wald, sondern eine spezifische Form: Die Fichte im Reinbestand, ein Baum in Reih und Glied, standardisiert, ökonomisch und gut. Wenn es zu warm und trocken wird, leider ein gefundenes Fressen für den Käfer.
Kirche an anderen Orten, bei anderen Gelegenheiten und in anderer Gestalt wird durchaus nachgefragt und trifft den Nerv der Zeit. Aus kirchlichen Start-Ups, der Diakonie und den Schulen könnte ich hier Beispiele nennen. Vielfalt ist gefragt. Der Vollsortimenter von der Stange war gestern: im Wald wie in der Kirche. 
Aber das allein wäre zu einfach: Wir stellen auf Laubmischwald um und sind alle Probleme los. Denn, wie der aktuelle Waldzustandsbericht zeigt: Auch die Laubbäume leiden unter den klimatischen Veränderungen. Und die Hoffnungs-Bäume, die gestern noch als dürreresistent galten, stehen ebenfalls im Stress: Nur noch 16% der Eichen, 18% der Buchen und 20% der Kiefern können als gesund gelten. Der Klimawandel lässt keine einfachen Lösungen zu. 
Auch für Glaube, Gott und Kirche haben sich die Rahmenbedingungen radikal geändert. Die letzten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung hat das unmissverständlich vor Augen geführt und das säkulare Driften offensichtlich werden lassen. Eine bloße Variation der Kirchenform kann hier nicht das Allheilmittel sein; auch neue Sprachen, Zugänge und Themen müssen ausprobiert werden. 
Was mich an der Waldmetapher besonders fasziniert: Dass sich hier beobachten lässt, wie es nach dem großen Sterben weitergeht. Denn der Wald verschwindet ja nicht, wenn die Bäume weichen. Dort bahnen sich neue Triebe ihren Weg. Erst zaghaft, kaum sichtbar. Eher ungeordnetes Gestrüpp aus Himbeeren und Gräsern; mit ersten Bäumen, die letztlich die Oberhand gewinnen. Der sogenannte Pionierwald. Er besteht im Harz aus Birken, Eschen und der Fichte – ja, auch sie kehrt zurück. 
Daneben wachsen fremde Bäume, die durch Tiere mitgebracht werden: Wildtiere sind Bioingenieure, die die Samen oft kilometerweit verstreuen. Das belebt und hieße auch für Kirche: Wir brauchen Migration und Impulse von außen. 
Ist der Pionierwald noch arm an Biodiversität, so bietet der Sekundärwald schon wesentlich mehr Flora und Fauna. In unseren Breiten braucht es dann ca. 1.000 Jahre, bis sich der Primärwald, ein Urwald, wieder durchsetzen wird.
Natürlich bricht das Bild an dieser Stelle. Denn Waldentwicklung wird hier ohne Mensch gedacht; aber ist es denkbar, Kirchenentwicklung ohne menschliche Steuerung zu konzipieren? Vielleicht hätte das mal etwas: In manchen Zonen die Dinge sich entwickeln lassen, wie sie sich entwickeln wollen. Ohne institutionelle Vorgaben und lenkendes Personal. Manche fordern ein solches Re-Wilding und erhoffen sich davon, dass eine „Kirche im natürlichen Zustand“ entsteht; also kein menschengemachtes Kulturphänomen, sondern Ekklesia als Gottesgeschöpf, in dem ER die Vorgaben macht. Erreicht Kirche nur so ihr volles Potential und wird uns staunen lassen, was alles möglich ist? Es käme auf einen Versuch an.   

Dr. Thomas Schlegel ist Direktor der Arbeitsstelle für missionarische Kirchenentwicklung und diakonische Profilbildung.