Dr. Jan Lemke

ist Präsident des Landeskirchenamts der EKM

Wie sieht für mich die zukünftige 
transformierte evangelische Kirche aus?

Bild: : Salzgewinnung

  
Ihr seid das Salz der Erde. Wenn nun das Salz nicht mehr salzt, womit soll man salzen?
Dieses Bibelwort aus Matthäus 5, 13 steht für mich am Anfang meiner Gedanken zur zukünftigen Kirche. Meine Vorstellungskraft reicht nicht aus, eine kurz- oder mittelfristig zahlenmäßig wachsende Kirche auszumachen.
Wenn ich Geschichten von früher höre, als noch fast alle Menschen in Deutschland Kirchenmitglieder gewesen sein sollen – wie mag das gewesen sein? War Deutschland – um im Bild zu bleiben – versalzen oder gar gepökelt? Oder hat das Salz nicht gesalzen und taugte nur zum Wegschütten? Vielleicht war das die Ursache für die Überhebung und die Unmenschlichkeit, die sich in zwei verlorenen Weltkriegen und unglaublichen Untaten niederschlugen.
Doch was kann noch werden? Salz würzt, wenn es als etwas Besonderes genutzt wird. Salzen, nicht versalzen, ist gefragt. Klein, aber fein, ist die notwendige Prise. Und die Qualität, nicht die Quantität, beschreibt die Kirche.
Die zukünftige evangelische Kirche ist für mich kein starres Gerüst, kein frommer Rückzugsort – sondern ein lebendiger Organismus, der sich seiner Wurzeln bewusst ist und gleichzeitig offen in die Zukunft wächst. Sie bleibt, was sie im besten Sinne schon immer hätte sein sollen: ein Angebot Gottes an alle Menschen. Dabei wandelt sie ihre Gestalt. Nicht ihr Kern verändert sich, sondern ihre Ausdrucksform, ihre Arbeitsweise und ihre Haltung zur Welt.
Im Zentrum steht das Verständnis vom Glauben als Suchbewegung, nicht als Besitzstand. Die transformierte Kirche ist ein Raum, in dem Zweifel nicht stören, sondern dazugehören. Ein Ort, an dem Fragen lauter sein dürfen als Antworten. Sie wird zum offenen Diskussionsforum, zur Bühne der Auseinandersetzung mit dem Leben, mit Gott und mit sich selbst. Der Glaube gibt keine dogmatische Sicherheit, sondern ist eine suchende Haltung, in der Menschen sich durch das Erzählen, das Hören und das gemeinsame Ringen gegenseitig stärken.
Die Liebe zeigt sich im sozialen Netzwerk gelebter Beziehungen. Die Kirche wird zur Stifterin von Begegnungen – lokal, digital, intergenerationell, interreligiös. In ihr finden sich Menschen zusammen, die Verantwortung füreinander und für andere übernehmen, weil sie es wollen. Weil sie wissen, dass die Bilder von Gott so vielfältig sind wie seine Ebenbilder. Weil sie Gott in jedem Menschen erkennen.
Und Hoffnung? Sie ist die vielleicht stärkste Ressource der zukünftigen Kirche. Aber sie ist keine Vertröstung, sondern eine Verheißung im Hier und Jetzt: dass alles gut werden kann, dass Veränderung möglich ist, dass auch das Zerbrochene in Gottes Hand noch Bedeutung hat. Diese Hoffnung trägt – auch, wenn die Welt sie naiv und unvernünftig nennt.
In dieser Kirche haben wir vieles neu aufgebaut. Wir haben die institutionelle Strenge gelockert, ohne ins Beliebige zu kippen. Ehrenamtliche leiten Gemeinden, digitale Formate ergänzen analoge Präsenz. Wir haben Räume geschaffen, in denen nicht nur religiöse Inhalte Platz finden, sondern auch Kunst, Politik, Wissenschaft, Alltag. Die Kirche ist kultureller Hintergrund und Impulsgeberin zugleich geworden – Hort der Tradition und zugleich Mitgestalterin der Gegenwart.
Zurückgelassen haben wir den Anspruch, die Welt retten zu müssen. Wir haben erkannt, dass wir nur Wegweiser sein können, keine Retter. Dass jede Seele ihren eigenen Weg finden muss – und dass unsere Aufgabe darin liegt, Wege sichtbar zu machen, nicht sie vorzuschreiben. Das hat uns Freiheit geschenkt. Und es hat die Institution entkrampft. Wo früher Angst vor Bedeutungsverlust herrschte, wächst nun Gelassenheit aus dem Vertrauen auf Gott. Wir müssen nicht alles kontrollieren. Wir dürfen loslassen.
Wir haben auch das Selbstverständnis zurückgelassen, im Besitz einer moralischen oder theologischen Überlegenheit zu sein. Die zukünftige Kirche stellt die Welt infrage – und auch ihre eigene Position. Sie hört zu, sie lernt und verändert sich. Sie steht nicht über der Gesellschaft, sondern mittendrin. Als Stimme, als Resonanzraum, als Irrende und Strebende zugleich.
Ich träume von einer Kirche, die möglichst vielen anderen das wird, was sie mir geworden ist – ein Tummelplatz unverdächtiger Leute, die eine stillschweigende Übereinkunft im Umgang mit der eigenen Unvollkommenheit verbindet. Eine Heimat auf der guten Seite – nicht, weil sie moralisch besser ist, sondern weil sie das Gute will und ihm nachstrebt. Eine Verheißung, dass bei Gott alles gut werden kann – auch wenn wir es nicht in der Hand haben.
In ihrer Arbeitsweise wird diese Kirche mutiger. Sie schaut nicht ständig auf den Mangel, sondern wird stark im Tun. Sie ist gelassener, weil sie weiß, wem sie vertraut. Sie wird kleiner, vielleicht, aber klarer. Weniger abhängig von Äußerlichkeiten, mehr durchdrungen von Gottes Freiheit.
Diese Kirche ist kein fertiges Projekt, sondern ein Weg. Sie ist ein Raum für Menschen, die unterwegs sind – mit sich selbst, mit anderen, mit Gott. Und dieser Weg bleibt offen, unvollendet, von der Sehnsucht getragen, das Salz der Erde zu sein.

Dr. Jan Lemke,  ist Präsident des Landeskirchenamts der EKM.