Friedrich Kramer
ist Landesbischof der
Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland.
Seelsorgerliche Kirche im Erprobungsmodus
Foto: Her(r)bergskirche in Neustadt am Rennsteig, © EKM [Thomas Müller]
Wie wird die Kirche in der nahen oder fernen Zukunft hier bei uns in Mitteldeutschland aussehen? Sind wir den anderen Kirchen in Deutschland voraus oder ist es ein ganz eigener Weg, der mit unserem ostdeutschen Herkommen zu tun hat? Wie es werden wird, liegt zum Glück in Gottes Hand. Aber einige Konturen zeichnen sich in unseren Überlegungen ab, wie wir die großen Herausforderungen mit Gottes Gnade in Chancen transformieren können.
Wir kommen aus einer gesellschaftlichen Ohnmachts- und Diasporasituation und versuchen seit über dreißig Jahren, uns in die Gegebenheiten und Strukturen der Evangelischen Kirchen in den alten Bundesländern einzuordnen. Aber es bleibt anders. Kirche und Glauben sind nicht selbstverständlich und die massiven Abbruchprozesse der 1950-er und 1960-er Jahre waren nicht zu heilen. Neue Herausforderungen kommen dazu, und wir sind in einer Situation, wo vieles sich verändert hat und noch verändert und wir Wege ausprobieren.
Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass wir wieder stärker eine seelsorgende und besuchende Kirche werden müssen. Das Amt des Seelsorgers und der Seelsorgerin braucht eine neue Wertschätzung, und die Geschwister brauchen Freiräume dafür. In einer Zeit, in der die Individualisierung in Singularisierung übergeht, haben wir mit der Seelsorge einen Schatz, der den einzelnen Menschen in den Blick nimmt, tröstet, stärkt und geistlich ausrichtet. Im Zweier-Gespräch wird Einsamkeit überwunden, können wirre Gedanken geordnet und die Liebe Gottes erfahrbar werden. Besuch und Seelsorge gehen den Einzelnen nach, fragen nach und helfen in Gespräch, Gebet und Beichte, die Herzen zu erleichtern. Gleichzeitig wird so Kirche erfahrbar und die Kirchenbindung gestärkt. Und durch Besuche und Gespräche nehmen die Seelsorgerinnen und Seelsorger die Wirklichkeiten ihrer Gemeinden wahr, sehen, wer alles da ist, über die hinaus, die zu unseren Veranstaltungen kommen, und erfüllen den Auftrag Jesu Christi: “Ihr habt mich besucht!”
Im Herbst 2024 haben wir unserer Landessynode den Bericht unserer Visitation des Arbeitsfeldes Seelsorge vorgestellt. 72 qualitative Interviews wurden sowohl von der Visitationsgruppe wie auch von der wissenschaftlichen Begleitgruppe ausgewertet. Dies hat spannende Ergebnisse erbracht, die wir auch veröffentlicht haben.
Seelsorge richtet sich an alle Menschen und ist vielfältig präsent. Sie genießt auch in unserem stark säkularisierten Umfeld hohes Ansehen und Vertrauen. Sie hat gesamtgesellschaftliche Bedeutung und wird von außerkirchlichen Institutionen wie Krankenhäusern, Polizei und Bundeswehr wertgeschätzt. Manchmal mehr als in unseren eigenen Reihen. Es zeigt sich, dass in der Seelsorge alle Themen zur Sprache kommen, die Menschen bewegen. In herausfordernden Lebenssituationen und Krisen wie Krankheit, Tod und Trauer werden wir als Christen als besonders kompetent und ansprechbar wahrgenommen. Gerne werden mit den Seelsorgern auch die Freuden und Fragen des Lebens geteilt. Meine Hoffnung ist, dass wir fröhlich auf allen Ebenen unserer Kirche daran arbeiten, seelsorgerliche Kirche zu sein, zu bleiben und immer wieder zu werden.
Im Februar 2025 haben wir auf einem großen Gemeindekongress zehn Jahre Erprobungsräume gefeiert und die Funken sprühen lassen. Das Ausprobieren von neuen und anderen Formen des Glaubens im säkularen Kontext hat in unserer gesamten Kirche zu einer Offenheit fürs Erproben geführt. Die Offenheit für Menschen, die sich mit großartigem Einsatz auf ihr Umfeld einlassen und Neues wagen, ist so anregend, dass die Erprobungsräume in vielen anderen Kirchen aufgenommen worden sind. Fehlerfreundlichkeit und Neugier darauf, wo der Geist Gottes in unserem Umfeld unterwegs ist, haben unsere Kirche verändert. Es führt dazu, dass wir auch in Zukunft eine Kirche sein werden, die in vielen Bereichen etwas ausprobiert und dabei bereit ist, außerhalb volkskirchlicher Logik Wege zu suchen und die Unerreichten mit dem Evangelium zu erreichen.
Inzwischen erproben wir auch Ideen kooperativer Nutzung unserer Kirchengebäude. Wir haben die meisten Kirchengebäude im Verhältnis zur Gemeindegliederzahl in der gesamten EKD. In unseren fast 4.000 denkmalgeschützten Kirchen und Kapellen befinden sich etwa 4.000 Orgeln, 10.000 Glocken und mehr als 150.000 bewegliche Kunstgegenstände. Seit vielen Jahren ermutigen wir die Kirchengemeinden, ihre Kirchen zu öffnen. Kirchen sind Gestalt gewordene Anbetung. Sie erzählen Glaubensgeschichte und Geschichten des Glaubens. Kirchbauvereine kümmern sich um „ihre“ Kirche im Dorf und öffnen sie mit innovativen Konzepten: als Her(r)bergskirche, mit einer Feuerorgel oder als Bienenkirche.
Die Idee der Her(r)bergskirche, die am Rennsteig begann, ist inzwischen zu einem Netzwerk von Kirchen geworden, in denen man übernachten kann und gastfreundlich aufgenommen wird.
Besuchte Kirchen und besuchende Kirche im Erprobungsmodus – so wird es sein.
Friedrich Kramer ist Landesbischof der
Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland.