Ernst-Wilhelm Gohl
ist Landesbischof der Evangelischen Landeskirche in Württemberg
Meine Vision von Kirche
Foto:
Vesperkirche 2025 // Rechte Monika Johna
Ein Tisch, an dem Menschen zusammenkommen, essen und trinken, sich ausruhen.
Hören und Sehen, wie freundlich Gott ist. Ein Ort, mitten auf der Lebensreise gelegen. Zwischen Orten des Glücks und der Traurigkeit. Ein Raum für Gespräche über die Welt und Gott. Ein Haus, in dem ich Rast machen kann. Offen für alle. Dieser Ort ist die „Herberge zur Mündigkeit“. Das ist Kirche.
Manchmal entdecke ich diese Kirche schon jetzt, mitten in der bestehenden Kirche.
In den Vesperkirchen. In den alten Kirchengebäuden – diesen durchbeteten und ohne Worte predigenden Räumen. Ich entdecke sie in den Sitzbänken auf dem Friedhof. Im gemeinsamen Pilgern. Im Streiten um die Wahrheit.
In dieser Herberge leben wir Gemeinschaft auf Zeit. Arme und Reiche. Kranke und Gesunde. Alte und Junge. Menschen von überall her.
Gemeinschaft auf Zeit braucht ein Dach über dem Kopf, einen Tisch, der verlässlich da ist.
Gemeinschaft auf Zeit braucht Brüder und Schwestern, die mir die Tür zur Herberge öffnen.
Brüder und Schwestern, die mich an den Tisch einladen und mit mir Essen und Trinken.
In dieser Herberge leben wir Gemeinde Jesu Christi.
Den Bauplan für diese Herbergen zur Mündigkeit finde ich bei den ersten christlichen Gemeinden. Sie gründen sich in der „lebendigen Hoffnung durch die Auferstehung Jesu Christi” (1. Petr. 1,3). Sie strahlen Zuversicht aus, denn diese „lebendige Hoffnung“ sieht weiter als die Augen sehen.
Die ersten Gemeinden leben die Praxis der Gottebenbildlichkeit. Jeder Mensch – unabhängig von seiner Herkunft, seinem Geschlecht, seinem sozialen Status – jeder Mensch ist Gottes Ebenbild. Gemeinde Christi ist inklusiv.
Die ersten Gemeinden leben die Verkündigung des menschenfreundlichen Gottes. Barmherzigkeit verändert das Leben zum Guten.
Die ersten Gemeinden leben Trost und Hilfe für die Schwachen. Glaube zeigt sich auch im konkreten Tun.
Damals wie heute braucht es nur wenige Christen, um diese Gemeinde Wirklichkeit werden zu lassen. Der 1. Petrusbrief nennt diese Christen „auserwählte Fremdlinge” und Gottes Volk. Weit voneinander verstreut liegen diese Gemeinden. Sie leben unter Menschen, die sich ganz anderen Religionen und Werten verpflichtet sehen. Mag die Welt um sie herum sein, wie sie ist. Das schreckt die Kirche nicht. Sie schöpft aus einer nicht versiegenden Quelle: Gottes Wort und die Sehnsucht auf sein Reich.
Neugierig sind die, die kommen. Manche schneien aus Zufall rein. Andere kommen mit letzter Kraft. Alle aber kommen freiwillig. Die Herberge zur Mündigkeit kennt keinen Zwang.
Und die, die kommen, werden selbst zu einem Teil der Herberge. Wie ein Bruchstück im Haus der lebendigen Steine.
Meine Vision von Kirche ist die Herberge zur Mündigkeit. Aber wie bauen wir diese Kirche der Zukunft von der bestehenden Kirche aus?
Das Entscheidende: Gott baut. Seinem Bauen sollen wir nicht im Weg stehen. Umgekehrt: Er will uns für seinen Bau in Dienst nehmen – jeden und jede. Die Pläne sind da. Wie so oft im Leben gilt: Wir haben kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsproblem.
Die Herberge zur Mündigkeit ist eine Kirche mündiger Christinnen und Christen.
Mündige Christinnen und Christen feiern Gottesdienste mit und gestalten sie selbst.
Mündige Christinnen und Christen hören anderen zu und geben selbst Zeugnis.
Mündige Christinnen und Christen erfahren Trost und Stärkung und trösten und stärken andere. Alle zusammen bauen sie an der Kirche als Herberge zur Mündigkeit.
Diese Vision von Kirche verändert Kirche. Kirche als Herberge zur Mündigkeit grenzt nicht aus, sondern lädt ein. Sie ist nicht statisch, sondern unterwegs. Sie fühlt sich nicht ständig selbst den Puls, sondern lebt ihren Auftrag.
Meine Vision von Kirche ist die Herberge zur Mündigkeit.
Gegründet in Christus. Mitten in der Welt. Nahe beim Himmel. Voller Hoffnung.
Ernst-Wilhelm Gohl
ist Landesbischof der Evangelischen Landeskirche in Württemberg