Dr. Ulrich Lincoln
ist Propst in Wolfsburg-Vorsfelde in der Ev.-luth. Landeskirche in Braunschweig.
Gewebe: Die Beziehungsmuster einer
zukünftigen Kirche
den Kirchen birgt die Chance, dass neue Leitbilder für die Beschreibung kirchlicher Beziehungsmuster und Funktionszusammenhänge entstehen. So scheint z.B. das Bild der Kirche als Familie nicht mehr zu greifen. Dieses Bild ist im klassischen ekklesiologischen Denken tief verwurzelt. Geschwister- und Elternschaft sind menschliche Grundbeziehungen, die vielen biblischen Narrationen zugrunde liegen. Doch die Anwendung dieses Beziehungsmusters auf die Sozialformen von Kirche und Gemeinde verdankt sich vermutlich vor allem den Impulsen der sog. frühkatholischen Phase im 2. und 3. Jahrhundert, in der sich die junge Kirche auf eine hierarchisch strukturierte Institutionsform zubewegt. Kommunitäre Reformbewegungen innerhalb der Kirchengeschichte führten immer wieder zur Erneuerung dieses Musters, das von der Intensität lebendiger Beziehungen und dem Versprechen lebensweltlicher Nähe lebt. In der Gegenwart scheint aber dieses Leitbild in gewisser Weise an sein Ende zu kommen. Die familiären und gesellschaftlichen Formen werden immer differenzierter. Zudem scheint es nicht mehr möglich zu sein, die Macht- und Gewaltförmigkeit der Familienerfahrung auszublenden. Aber gibt es Alternativen?
Ein neues Bild ist beispielsweise das Netz. Der Braunschweiger Landesbischof Meyns hat die zukünftige Struktur seiner Landeskirche als „Netzwerk kirchlicher Hör-, Begegnungs- und Handlungsräume“ beschrieben. Die Metapher des Netzes ist weniger personalistisch als das Familienbild, und vielleicht ist gerade dies seine Chance: Netzwerke gründen nicht im biologischen Schicksal, sondern in einer dynamischen Mischung von eigenen Verknüpfungen und fremden Anknüpfungen. Das Netzwerk ist eine offene Textur aus Kreativität und Zufall, aus Planung und Widerfahrnis.
Das Netz ist natürlich auch ein biblisches Bild: Die neutestamentliche Geschichte vom Fischfang ist in ihrer lukanischen und johanneischen Fassung sehr unterschiedlich (Lk 5 und Joh 21). Doch beide Fassungen erzählen gemeinsam davon, wie sich in der Gegenwart des auferstandenen Christus Erfahrungen von Suchen, Fischen, Fangen, Finden und Gefunden-werden verbinden. Diese Mischung aus Aktivität und Widerfahrnis scheint mir für ein biblisches Verständnis christlicher Gemeinschaft zentral zu sein.
Ein ganz anderes Bild zur Beschreibung von Kirche, das gegenwärtig diskutiert wird, ist die Diaspora. Auch dieser Begriff trägt ein gewisses Maß von Zufälligkeit: Die Diaspora ist ja das Zerstreute, das sich in der Fremde wiederfindet. Die jüdische und die afrikanische Diaspora sind Beispiele dieser geschichtlichen Erfahrung. Solche historischen Vergleiche könnten dabei helfen, den Diasporabegriff zu schärfen. Vielleicht wird sich aber auch zeigen, dass dieser Begriff doch nicht ungebrochen auf das Schicksal der christlichen Kirche in Europa übertragen werden kann. Zudem trägt der Diasporabegriff die Gefahr in sich, dass er sich mit einer falsch verstandenen Verlustgeschichte verbinden könnte. Diaspora als Verlust einer früheren Heimat ist immer eine Identitätskonstruktion, die das angeblich Verlorene selbst erst konstruiert. Nicht in einer solchen Identitäts-Geschichte eines untergehenden Abendlandes liegt die Stärke des kirchlichen Diasporagedankens, sondern in den Kompetenzen der Menschen in der Verstreuung: Sie müssen und sie können in besonders hohem Maße Netzwerke bilden, Brücken bauen, ansprechbar und hörfähig sein. Die genannte Verbindung von Aktivität und Responsivität ist ein Merkmal der diasporischen Existenz.
Und schließlich ein dritter Hinweis: Das Netzwerkbild hat auch eine gewisse Nähe zur Metapher des Textes. Auch der Text ist ein Körper, der aus Verknüpfungen entsteht. Das lateinische Wort textus bezeichnet ein Gewebe, in das Gewobenes und Verbundenes eingeht. Das deutsche Ge-Webe ist dasselbe Wort wie das englische web, und selbstverständlich ist das Intern-net tatsächlich das worldwide web. Für die protestantische Tradition ist der Textcharakter der kirchlichen Überlieferung von besonderer Bedeutung. Und so lässt sich dann auch die Kirche theologisch nicht nur als creatura verbi verstehen, sondern auch als gewobener Stoff, als geschichtliches Kleid, vielleicht auch als faden-scheinige Institution. Wer knüpft hier an welchen Fäden? Wer hängt an welchen Fäden? Und welchen Kommunikationsfaden (thread) nehmen wir jetzt auf und spinnen ihn weiter?
Netz, Zerstreuung, Text: Diese ekklesiologischen Anwendungen setzen sich deutlich vom klassischen Familienleitbild ab. Die Vielzahl der Alternativen zeigt zudem, dass der Stoff für neue Bilder unermesslich ist. Und dass die Suche nach neuen Bildern immer auch ein Spiel ist, eine Improvisation, in der ein alter standard neue Ausdrucksmöglichkeiten erschließt. Und vielleicht ist dann auf einmal der Jazz das Material für das nächste Kirchenbild.
Dr. Ulrich Lincoln ist Propst in Wolfsburg-Vorsfelde in der Ev.-luth. Landeskirche in Braunschweig.