Christoph Ernst
ist Superintendent des
Kirchenkreises Bad Salzungen-Dermbach (EKM)
Meine ökumenisch-diakonische Kirche
Bild:
Blick von der Rossberg-Kanzel ins Ulstertal und auf die Gipfel der Rhön, Foto: Julia Otto
Im Jahr 1886 schreibt Leo Tolstoi in seinem Buch „Die Macht der Finsternis“ den ernüchternden Satz „Die Menschen gehen lieber zugrunde, als dass sie ihre Gewohnheiten ändern.“ An manchen Tagen denke ich, dass Tolstoi vielleicht mit seiner Behauptung auch im Blick auf unsere real existierende Kirchenorganisation recht behalten könnte: zu festgefahrene Strukturen; zu viele Traditionen, bei deren Wegfall es „nicht mehr meine Kirche“ wäre; vor allem aber erlebe ich unter Christenmenschen in meinem Umfeld eine deprimierende Veränderungserschöpfung, weil all die zäh errungenen „Strukturanpassungen“, die „Exnovationen“ und „Ambidextrien“ bereits unendlich viel Energie verbraucht und auch wertvolle
Lebenszeit geraubt haben.
Als meinen hoffnungsvollen Gegenentwurf zu Tolstoi höre ich Jesu klares und orientierendes Wort vom Aufbruch in die Nachfolge. Einer der Männer, die Jesus in seinen Kreis beruft, zögert. Er will traditionsbewusst zunächst einmal das tun, was üblich ist und sich gehört – seine Eltern begleiten und begraben. Dann erst kann er kommen, dann erst wird er frei sein, um sein Leben wirklich ändern und Neues wagen zu können. Aber Jesus sagt zu ihm: „Folge mir nach und lass die Toten ihre Toten begraben.“ Ob dieser Mann wohl mit Jesus aufgebrochen ist? Wir wissen es nicht…
Ich bin hin und her gerissen. Traditionen haben auch bei uns ihr gutes Recht. Vieles davon ist schön und erfreut sich unverändert
großer Beliebtheit. Denken wir nur ans Kirchenjahr mit wunderbaren Festen wie Ostern und Weihnachten. Oder an die alten Choräle, Gemeindeausflüge, Jubelkonfirmationen und Kirmesfeiern. Traditionen und damit verbundene Rituale geben uns Halt – gerade in haltloser Zeit. Und mancher mag auch sagen: wenn wir mit unseren Gewohnheiten zugrunde gehen, dann ist das eben so! Das muss man so nicht teilen, doch die meisten Gemeindeglieder in unseren Kirchen brauchen auch ihre Traditionen zum Glauben, und die Kirche ist für sie auch eine Konstante, auf die sie sich verlassen wollen, wenn sich schon sonst alles immer schneller verändert. So ist es jedenfalls hier, in der Thüringer Rhön. Auch wenn mein hochverehrter Kirchenvater Friedrich Schleiermacher schon vor zweihundert Jahren das Ende der Parochien prognostiziert hatte – sie halten sich doch immer noch erstaunlich gut…
Zugleich erlebe auch ich das andere: mit unseren traditionell-kirchlichen Angeboten, die sich um einen Kirchturm herum und auf das kleine Gebiet zwischen zwei Ortsschildern fokussieren, erreichen wir trotz hoher volkskirchlicher Verbundenheit immer weniger Menschen. Und das Schöne am schleichenden Niedergang des Überkommenen ist: auch im ländlichen Raum werden wir kreativ, wir lösen uns aus unseren Gewohnheiten und probieren doch auch Neues. Langsam, aber stetig.
Kirchliche Veränderungsprozesse im Sinne eines „semper reformanda“ schätze ich inzwischen dann, wenn sie mit möglichst wenig Aufgeregtheit, dafür mit Gelassenheit einhergehen. Mein Zukunftsbild von Kirche liegt zwischen einem tolstoi‘schen Fatalismus und einem unternehmerischen Programm für eine angeblich „nur so überhaupt noch zukunftsfähige“ Kirche.
Etwa so: meine Kirche der Zukunft wird hoffnungsvoll ökumenisch sein, farbenfroh wie eine ausgedehnte Hochrhön-Wiese im Frühsommer. Da ist viel Platz für kreative Ideen, für frischen Wind und erfüllte Sehnsucht nach Weite im „Land der offenen Fernen“ (damit wirbt die Rhön für sich). Stellenbesetzungen im Verkündigungsdienst werden nicht mehr an Landeskirchengrenzen, unterschiedlichen Gehaltsniveaus oder gar an der Zugehörigkeit zu Versorgungskassen scheitern. Es wird in jeder Region eines Kirchenkreises noch ein oder zwei regelmäßig und liturgisch festlich gestaltete, klassische Sonntagsgottesdienste geben, darüber hinaus eine Vielzahl an geistlichen Angeboten in experimenteller Form. Es wird keine Rolle mehr spielen, ob jemand traditionell evangelisch, katholisch oder atheistisch ist – alle auf der Suche nach Lebenssinn Interessierten sind willkommen. Die Tore stehen offen, das Land ist hell und weit…
Meine Kirche der Zukunft wird zugleich eine diakonische Kirche sein. Ihr geht es nicht um fromme Selbstvergewisserung, sondern um die Zuwendung zu den nahen und fernen Nächsten, um Sozialraumorientierung und den Wunsch, diese Welt, soweit es uns möglich ist, zu einem besseren und für alle Kreatur lebenswerteren Ort zu machen. Nicht um uns vor uns selbst und vor Gott zu rechtfertigen, nicht um moralischer Überlegenheit willen, sondern weil wir als Christenmenschen Gerechtfertigte sind, die nicht ohne Grund, wohl aber mit einer Mission auf dieser Welt leben.
Ich hoffe sehr, bete und arbeite täglich daran, dass Tolstoi mit seinem Verdikt vom „lieber Zugrundegehen“ der Menschen zumindest im Blick auf die Kirche unrecht behält. Denn: wir können uns immer wieder ändern, fröhlich glauben und sonnig ausstrahlen in die Weiten dieser Welt. Strahlen brechen viele aus einem Licht – unser Licht heißt Christus…
Christoph Ernst ist Superintendent des
Kirchenkreises Bad Salzungen-Dermbach (EKM)